Eine Studie über die Anwendungsperspektiven der Ingestionstheorie
von Prof. Dr. Feustus
Im Juli diesen Jahres wurde ein Symposium über die Perspektiven, die sich aus der Ingestionstheorie ergeben, abgehalten. Wissenschaftler aus allen Ländern diskutierten die Möglichkeiten, die sich aus den neuen Kenntnissen im Bereich der Wissensvermittlung ergeben. Ursprung dieses, mittlerweile umstrittensten Bereiches der Neurochemie waren Versuche, die mit Strudelwürmern (Planarien) gemacht wurden. Den Tieren wurden bestimmte, einfache Fähigkeiten andressiert. Danach wurden sie getötet, zerkleinert und an Artgenossen verfüttert. Erstaunlicherweise übertrugen sich die Fähigkeiten auf die undressierten Tiere.
Die Ingestionstheorie besagt nun, dass Fähigkeiten durch Ingestion (Nahrungsaufnahme) bestimmter Teile eines artgleichen Körpers übertragen werden können. Heute weiß man, dass bestimmte Moleküle (Peptide) ausreichen, um die andressierten Verhaltensmuster auszulösen. Versuche mit Ratten zeigten, dass ein Extrakt aus dem Hirn der dressierten Ratte die gleiche Wirkung hatte wie die Gesamtmasse, insofern, dass die Empfängerratten die Verhaltensschemata der Spenderratten übernahmen.
Die Tagung befasste sich mit zwei Aspekten der Forschungsergebnisse: Die Konsequenzen für die Theorie der Evolution und die Schlussfolgerungen, die sich für unser gesellschaftliches System ziehen lassen.
Es ist seit langem bekannt, dass Ingestion einen evolutionären Fortschritt bedeutet. Als Beispiel dafür ließe sich die, als “Kannibalismus” verschriene Rettung von Erfahrungen anführen. Es steht außer Zweifel, dass sich die Menschheit ohne diese spezielle Form der Vererbung heute auf einem viel niedrigeren Niveau der geistigen Entwicklung befinden würde.
Da sich die geistige Evolution viel rascher vollzieht als die biologische ist es die Überzeugung der Wissenschaft, dass wir es, gerade in unserer heutigen Zeit, nicht verantworten können diese bewährte Methode, und damit die Kontrolle über die geistige Evolution, zugunsten unbestimmter “ethischer Grundsätze” aus der Hand zu geben.
Im Folgenden wollen wir versuchen, einige der wichtigsten Veränderungen, die ein solches System der Informationsvermittlung implizieren würde, skizzenhaft darzustellen.
Als erstes ergäbe sich die Möglichkeit, langjährige Erfahrungen von älteren Arbeitnehmern zu erhalten. Für Menschen, die ihr Wissen nicht auf konventionellem Wege (Ausbildung, Zeitschriften) vermitteln können, eröffnet diese Methode eine Möglichkeit, ihre Erfahrungen in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen.
Die Hauptkonsequenzen aus der Einführung eines solchen Systems wären aber, ohne Zweifel, die revolutionären Veränderungen auf dem bildungspolitischen Sektor. Die einzige Komplikation ergibt sich daraus, dass man gezwungen wäre, zwei unterschiedliche Durchführungsarten ins Auge zu fassen:
Auf der einen Seite wäre es bei naturwissenschaftlichen Fächern unumgänglich, das Wissen des Lehrers so schnell wie möglich zu vermitteln, um den Abstand zur Spitzenforschung so gering wie möglich zu halten. Auf der anderen Seite verlangen die sprachlichen, literarischen und künstlerischen Bereiche ein Höchstmaß an Erfahrung.
Gesellschaftswissenschaftler müssen sogar solange es geht die Möglichkeit haben, ihr Blickfeld zu erweitern, da es gerade hier sehr stark auf Allgemeinbildung ankommt. Hier wäre es wünschenswert, die Extraktion auf den letztmöglichen Zeitpunkt zu verlegen, wobei berücksichtigt werden muss, dass gewisse Alterungsprozesse negative Auswirkungen auf den Geisteszustand haben können.
Für die Schule würde diese Unterteilung bedeuten, dass nur noch sprachliche, literarische, künstlerische und gesellschaftspolitische Fächer unterrichtet werden müssten, naturwissenschaftliche Kenntnisse könnte man mit Hilfe einer “Schulspeisung” vermitteln.
Das ist aber nur ein kleiner Ausschnitt aus den möglichen Folgen einer radikalen Anwendung der Ingestionstheorie. Weitere Konsequenzen möchte ich hier nur noch kurz erwähnen:
- Die Veränderungen des Schulwesens würden eine drastische Verminderung der Lehrerarbeitslosigkeit nach sich ziehen.
- Die Renten, und damit auch die Rentenbeiträge würden wegfallen; die so frei gewordenen Mittel könnte man andernorts z.B. zur Belebung der Wirtschaft einsetzen.
- Bibliotheken würden überflüssig werden, ein Buch müsste nur einmal von einem “Lektor” auswendig gelernt werden. Das anschließend gewonnen Extrakt müsste nur künstlich hergestellt werden und das Wissen und der Inhalt der einzelnen Werke könnten in Tablettenform bereitgestellt werden.
- Es müssten staatliche Verteilerstellen eingerichtet werden, um zu überwachen wer welches Wissen aufnehmen darf. Sie müssten sicherstellen, dass es nicht zu einem einheitlichen Bildungsstand und damit zu einer Schwächung des politischen Systems kommt. Man könnte z.B. eine Art Bankkonto einrichten, auf das, nach einem gewissen Modus, Wissen “eingezahlt” wird.
Die größte Umwälzung aber wäre ein erforderliches allgemeines Umdenken, um die Akzeptanz dieser Methode gegenüber zu erhöhen. Dem Leben müsste ein neuer Sinn gegeben werden, zum Beispiel wären für die Studenten von Naturwissenschaften neue Anreize vonnöten.
Hier konnte nur ein kleiner Teil der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte aufgezählt werden. Klar aber ist, dass die Erkenntnisse aus der Biologie ungeahnte Möglichkeiten ins Blickfeld rücken lassen und uns ein Werkzeug an die Hand geben, mit dem sich die Gesellschaft, gemäß den Erfordernissen der geistigen Entwicklung, transformieren ließe.
Thomas Feuster
irgendwann im Herbst 1984
veröffentlicht im Treibhaus, Ausgabe 7, Jahrgang 3, Dezember 1984