Der Werwolf

Das stammt noch aus der Schulzeit. Der Anlass war ein Literaturkurs zum Thema “Der Wolf in der Literatur” bei der guten, alten Frau Koch. Das war wahrscheinlich das einzige Mal, dass ich in Literatur eine wirklich gute Note bekommen habe…

“Weltausstellung in Paris feierlich eröffnet” lautete die Schlagzeile der zwei Tage alten Times. Darunter Stand: “Große Feier unter dem neuen Wahrzeichen der Stadt” Zu sehen war eine Zeichnung des neuen Turms, daneben, kleiner, der Architekt dieses gewaltigen Wunders, Gustav Eiffel.

Lachend faltete Jim Thorb die Zeitung zusammen. “Wie gut”, sage er leise vor sich hin, “dass ich die Idee mit dem Urlaub hatte! Sonst müsste ich jetzt in Paris sitzen, auf Empfänge gehen, mit der Prominenz dinieren und vor jedem dem Hut ziehen.” Das Gewehr in der Ecke, ein ganz neues Modell, die Schachteln mit Patronen und andere Ausrüstungsgegenstände zeigten, dass Jim Thorb hier war, um seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, dem Jagen.

Kurz entschlossen hatte er sich einen Ort irgendwo in England ausgesucht und war, ohne die sonst übliche Abschiedsfeier, aus London abgereist. Jetzt saß er nun in diesem Dorf, von dem er vorher nur den Namen kannte, in einem Zimmer, das er unter normalen Umständen als schäbig bezeichnet hätte, und freute sich, dem Trubel für ein paar Tage entronnen zu sein.


Nachdem er die Zeitung gelesen hatte, ging er hinaus, um noch einige Kleinigkeiten einzukaufen. Immer noch lachend schlenderte er die Strasse des Ortes hinunter zu dem kleinen Laden, fast am Ende des Dorfes. Die Häuser, an denen er vorüberging, hatten nichts mit denen in London gemein, die er sah, wenn er zu Hause seine Balkontür öffnete. Hier waren sie klein und verwinkelt, der Putz, falls jemals welcher an den Häuserwänden gewesen war, schon lange abgefallen. Auch die Strasse glich eher einer Rinne als einem befahrbaren, gepflasterten Weg.

Die Menschen, die ihm entgegenkamen , ähnelten nicht den herausgeputzten und aufgemachten Damen und Herren, die er sonst auf der Strasse traf. Keine hübsch geschminkten Gesichter, sondern grobe Züge; eingehüllt von alten, manchmal schon löchrigen Mänteln. Und doch hatten diese Gesichter einen Ausdruck, der in den Städten schon lange verloren war. Diese Fröhlichkeit war es, die Jim Thorb immer wieder in solche abgelegenen Gegenden fahren ließ.

Aber was für einen Preis musste ein Mann wie er dafür bezahlen! Kein Restaurant im ganzen Ort, Zeitung höchstens alle drei Tage, aber dann meist schon eine Woche alt. Hier gab es keine Barbier, sogar die klapprige Postkutsche fuhr nur einmal die Woche, und dann auch nur bei gutem Wetter.


Er hatte den Laden erreicht. Noch in Gedanken versunken, trat er ein. Nachdem er sich ein paar Sachen zusammengesucht hatte, ging er zu der alten Frau an der Kasse, um zu bezahlen.

Die Alte, die ihn wahrscheinlich sofort als Auswärtigen erkannt hatte, sprach ihn freundlich an. “Was führt denn einen Herren wie Sie in unser kleines Dorf?” Thorb blickte in das alte, von Arbeit und Mühen gezeichnete Gesicht. “Ich mache hier Jagdurlaub. Eine schöne Gegend zum jagen.” Plötzlich zog ein Schatten über ihr Gesicht. Thorb spürte, wie das Lächeln in ihrem Gesicht gefror. Wie eine dunkle Wolke lastete die entstanden Stille auf ihm. Die alte Frau packte schnell die Sachen zusammen und gab ihm sein Wechselgeld heraus. Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus.


Auf dem Weg zurück ließ er sich Zeit und sprach mit diesem oder jenem, der ihm begegnete. Die Menschen unterhielten sich gern mit ihm, aber jedesmal, wenn die Sprache auf das Jagen kam, spürte er bei seinem Gegenüber diese plötzliche Zurückhaltung. Der andere beendete dann das Gespräch abrupt und ging weiter. Nur ein einziger beugte sich noch vor, um ihm etwas zuzuflüstern. “Hier im Wald gibt es wilde Tiere.” Thorb wollte einen Scherz machen. “Wegen denen bin ich doch hier.” Im selben Moment biss er sich auf die Zunge, weil er merkte, dass sein Gesprächspartner das gar nicht unterhaltsam fand.

Wieder zu Hause, dachte er über diese seltsame Reaktion nach. Die Angst, dass er ihnen alles wegschießen könnte, war seine einzige Erklärung dafür. Er beschloss, der Sache beim Abendessen auf den Grund zu gehen.


Am Abend, nach dem Essen, setzte er sich im Gasthaus an einen freien Tisch und bestellte sich einen Whisky. Er hatte gerade den ersten Schluck genommen, da setzte sich eine alter Mann zu ihm an den Tisch. Der Alte musterte ihn eine Weile, dann fragte er Thorb: “Ich habe gehört, Sie wollen hier Jagen gehen?” “Also doch Angst um ihr Wild”, dachte Thorb. Plötzlich viel ihm auf, dass es im ganzen Raum still geworden war. Alle hatten sich zu seinem Tisch herumgedreht. “Das habe ich vor”, antwortete er. Sein Gegenüber zögerte einen Augenblick. “Das sollten Sie nicht tun”, sagte der Alte unsicher. “Ich werde euch euer Wild schon nicht ganz wegschießen”, lachte Thorb. “Um das Wild mache ich mir keine Sorgen, sondern um Sie.” Jetzt war Thorb endgültig neugierig geworden. Er merkte, dass der Alte ihm irgendwas verheimlichte. “Ich bin einer der besten Jäger in unserem Club”, sagte er in einem Ton, der entrüstet klingen sollte. Er hatte die richtige Saite angeschlagen. “Das wollte ich damit nicht sagen”, wehrte der Alte ab. Er blickte hilfesuchend in die Runde, dann sagte er zögernd: “In unserem Wald geht es nicht mit rechten Dingen zu!” Jetzt war es heraus. “Ein unsterblicher Wolfsmensch, der Menschen anfällt und tötet.” Das war es also! Thorb hätte beinahe angefangen zu lachen, hielt sich aber im letzten Moment zurück. “Hier gibt es keine Wölfe mehr. Der letzte Wolf wurde in England vor zehn Jahren erlegt.” “Das ist kein normaler Wolf.”

Auf einmal fingen alle an zu erzählen, als ob ein Bann von ihnen gefallen sei. Von allen Seiten redete man auf Thorb ein. Zum Schluss zeigte der Wirt ihm ein Bild von einem jungen Jäger, der letzte Saison hier verschwunden sein sollte; auch er war hier Gast gewesen. “Wahrscheinlich ist er von hier aus in ein anderes Dorf gewandert und dort geblieben.” Damit war für Thorb das Thema erledigt. Um jeder weiteren Diskussion vorzubeugen, wechselte er schnell auf ein anderes über. “Hat jemand von Ihnen etwas über die Geburtstagsparade zu Ehren der Queen gehört?”

Aber die Stimmung blieb gedrückt. Nach einiger Zeit gingen die Ersten, und auch Thorb blieb nicht mehr lange, sondern ging in sein Zimmer und legt sich aufs Bett. Sein Entschluss war gefasst. hier bot sich die einmalige Gelegenheit, ein bisschen mit dem Aberglauben aufzuräumen. Gleich morgen früh würde er in den Wald gehen und einen geeigneten Platz für die Jagd suchen. Thorb konnte sich schon die Blicke der Dorfbewohner ausmalen, wenn er ihnen den Kopf des Wolfes präsentieren Würde.

Jim Thorb als Missionar des technischen Fortschritts und der realistischen Denkweise! Die anderen im Club würden Platzen vor Neid.

Darüber schlief wer ein.


Am nächsten Morgen, in aller Frühe, machte Thorb sich auf, um im Wald nach der Fährte eines Wolfes zu suchen. Er streifte lange durch das Gelände und fand doch nur Spuren von Hirschen und anderen Tieren.

Dann gegen Mittag, die Sonne stand schon hoch am Himmel, kam er auf eine Lichtung. Mitten im Wald ein heller Fleck. Wenn überhaupt, dann musste er hier eine Spur finden, davon war Thorb überzeugt. Und an einer Stelle war das Gras wirklich niedergetreten! Tatsächlich, eine Wolfsfährte! Thorb suchte einen Platz, wo er am besten auf den Wolf warten konnte. Da er keine Erfahrung mit der Jagd nach Wölfen hatte, dachte er sich, dass es am sichersten sei, das Tier mit einem Köder herauszulocken.

Den Heimweg prägte er sich genau ein, um die Lichtung am Abend ohne Umwege erreichen zu können.


In der Wirtschaft erwarteten ihn schon einige Dorfbewohner. Wieder versuchten sie, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Schroff beendete er das Gespräch und ging in sein Zimmer, um die letzten Vorbereitungen für den Abend zu treffen.

Thorb entschloss sich, nicht zum Abendessen zu erscheinen, um den Dorfbewohnern aus dem Weg zu gehen. Da er alles, was er brauchte, auf seinem Zimmer hatte, wollte er den Ort so früh wie möglich verlassen.


Als er am späten Nachmittag seinen Rucksack packte, beschlich ihn doch ein seltsames Gefühl. Er reinigte sein Gewehr heute gründlicher als gewöhnlich und überprüfte jeden Gegenstand zweimal, bevor er ihn einpackte. Zur Sicherheit nahm er noch einen kleinen Revolver mit.

Einem plötzlichen Gedanken folgend, verließ er sein Zimmer durch ein rückwärtiges Fenster. Und richtig! Kaum hatte er sich bis zur Strasse vorgetraut, sah er auch schon ein paar Dorfbewohner vor dem Wirtshaus auf ihn warten. Da sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Haustüre konzentrierte, konnte er unbemerkt die Strasse überqueren und im Gebüsch verschwinden.


Es war schon spät, und so beeilte sich Thorb, um noch vor Dunkelwerden auf der Lichtung zu sein. Er hatte sie gerade erreicht und Holz für ein kleines Feuer gesucht, als die Sonne unterging. Schnell legte er den Köder aus und setzte sich dann an das glimmende Feuer.

Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Der Mond stand schon hoch und schien schwach auf die Lichtung herab. Thorb beschlichen Zweifel, ob er so den Wolf fangen könnte. Würde dieser tatsächlich bis an das schwache Feuer herankommen; würde er nicht stattdessen fliehen, wenn er einen Menschen witterte?

Thorb wusste, dass er bei dieser Jagd im Nachteil war. Der Wolf würde ihn sofort als Menschen erkennen, während er den Geruch eines Wolfes nur aus Erzählungen kannte. Ausredet konnte dieser zwischen verschiedenen Anschleichwegen wählen.

Thorb musst sich, wohl oder übel, nach dem Wolf richten.

Aber der im Halbdunkel kauernde Jäger war, getreu der Erkenntnis, dass der Mensch sich vom Tier durch die Intelligenz unterscheidet, überzeugt, dass es ihm gelingen würde, den Wolf zu stellen.

Plötzlich wurden seine Gedankengänge unterbrochen. Hörte er nicht ein Geräusch? War da nicht ein dunkler Schatten vor den vom Mond schwach erleuchteten Bäumen zu sehen? Da, wieder war ein leises Knacken zu hören.

Der Wolf kam!

Einen Augenblick hörte er nichts mehr, aber dann waren die Geräusche wieder da, aber lauter und mehr von der Seite. Langsam umkreiste der Wolf das Feuer. “Ein schlauer Bursche!” Thorb folgte den Geräuschen durch Drehen des Kopfes. Dann, als der Wolf irgendwo vor ihm angelangt war, verstummten die Geräusche. Obwohl der Jäger angestrengt lauschte, hört er nichts als das leise Rauschen der Bäume im Wind.

Und dann sah er sie. Zwei leuchtend grüne Punkte, die ihn angestrengt fixierten. Für einen Moment glaubte Thorb darin Trauer zu sehen, aber dann ging es wie ein Schatten über die Augen.

Das Tier sprang.

Kaum war der Knall der Büchse verklungen, war Jim Thorb schon auf den Beinen, um sich sein Opfer näher zu betrachten. Das Gewehr in der einen, ein brennender Scheit Holz in der anderen Hand, ging er auf die leblos daliegende Masse zu. Doch kaum hatte er das Holzscheit hochgehoben, um das Tier besser betrachten zu können, als es ihn wie ein Schlag durchfuhr. Die Büchse entfiel seiner Hand, und beinahe wäre er selbst gestürzt. Am ganzen Leibe zitternd und nur mit Mühe konnte er sich aufrecht halten. Denn das Gesicht, das ihn anstarrte, glich aufs Haar dem Bilde des Jägers, das er gestern Abend gesehen hatte. Der Körper lag unnatürlich gekrümmt da, als hätte er mitten im Aufstehen einen Schlag erhalten. Aus zwei eng nebeneinander liegenden Wunden in der Nähe des Herzens quoll Blut.

Die Gedanken schossen durchs Thorbs Kopf. Wie konnte es nur geschehen, dass er auf einen Menschen geschossen hatte? Was hatte den Anderen dazu gebracht, um sein Lager herumzuschleichen?

Plötzlich erinnerte er sich an die Worte des alten Mannes: “Ein unsterblicher Wolfsmensch, der Menschen anfällt und tötet.” Und auf einmal wusste er, nein, spürte er vielmehr die Wahrheit.

Der alte Mann hatte recht und doch unrecht. Der Wolf tötete niemanden. Das ganze Gewicht der Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag.

Schütze und Opfer

Jäger und Beute

Alle…


Als am nächsten Morgen die ersten Sonnenstrahlen auf die Lichtung trafen, brach sich das Licht vieltausendfach im Tau auf den Bäumen, Gräsern und Blumen. Die ersten Vögel stimmten ihr Lied an, so als ob nichts geschehen wäre.

Auf der anderen Seite, noch im Dunkeln der Bäume, an dem schon lange heruntergebrannten Feuer, erhob sich gerade ein großer, fast schon zu grauser, grauer Wolf. Noch einmal drehte er sich herum zu den noch immer geöffneten Augen des Jägers, aus dessen Wunden es aufgehört hatte zu bluten. Dann wandte das Tier sich ab und trottete langsam den Weg zurück, auf dem es gestern aus dem Wald gekommen war.

Thomas Feuster
im Januar 1985